Onkel Hermann spricht wieder aus dem Off
Es tut mir aufrichtig leid, aber ich muss den Fluss der Handlung einen Augenblick lang aufhalten.
Zu Beginn habe ich Ihnen ja schon erzählt, dass die Ereignisse in Berlin zu einem Untersuchungsausschuss im Bundestag geführt haben. Da die Idee zu dieser Überprüfung exakt an dem Tag von einem aufrecht wütenden Grünen geboren wurde, an dem Steebens Leiche im Müllcontainer auftauchte, ist jetzt gerade der richtige Zeitpunkt, über diesen wahrhaft denkwürdigen Ausschuss zu berichten.
Haben Sie die Leichen mitgezählt?
Da ist zunächst Nase, mit bürgerlichem Namen Erwin Habdank. Er verbrannte in den Trümmern seines Bauernhauses, hatte sich von Kokain regelrecht ernährt und war alles in allem ein Mensch, dem niemand nachtrauerte, außer vielleicht ein paar süchtigen, auf Kokain angewiesenen Zuhältern und deren Damen. Zusammen mit ihm starben ein gleichaltriger bedeutungsloser Kumpan sowie ein sehr junger Mann, der angeblich zu den Rechtsextremen zählte.
Diese letzte Behauptung bestätigte sich nicht, der junge Mann war vielmehr seit etwa vier Jahren Mitglied der Jungen Union. Er hieß Arthur Bleicher, genannt Atze.
Atze war auch der Grund, weshalb Wochen später der Untersuchungsausschuss die furchtbare Katastrophe im Haus von Nase nur am Rande erwähnte. Das Ganze wurde unter der Rubrik Rachefeldzug innerhalb der Unterwelt abgetan, weil zwei zum Ausschuss gehörige CDU-Mitglieder nicht gern über die Vita des Atze Bleicher sprechen wollten, der etwa drei Monate vor seinem gewaltsamen Tod mit einer Brandrede unter dem Tenor ›Kampf den Drogen‹ auf einem Bezirksparteitag begeisterte Aufmerksamkeit erregt hatte.
Der Ausschuss einigte sich darauf, dass die Brandkatastrophe am Müritzsee mit den eigentlichen, zur Diskussion und Untersuchung anstehenden Fragen nichts zu tun habe. Auf diese Weise entkam die CDU einer Blamage, und es ist sicher, dass die Mitglieder des Ausschusses, die von der FDP gestellt wurden, das auch so interpretierten, denn die gingen ihrerseits nun dazu über, bei der Auswahl möglicher Zeugen darauf hinzuweisen, dass der Rechtsanwalt und Unternehmer Timo Sundern unter keinen Umständen geladen werden könne. Die FDP konnte zu Recht darauf hoffen, Unterstützung von der CDU zu bekommen.
Die Liberalen begründeten die Ablehnung des Zeugen Sundern folgendermaßen: »Wir sind strikt dagegen, diesen Mann hierher zu zitieren. Nicht weil er möglicherweise in illegale Geschäfte verstrickt ist, sondern weil sich diese Partei denen besonders verbunden fühlt, die im freien Wettbewerb stehen. Sundern ist Anwalt, und was auch immer er uns sagen könnte: In den weitaus meisten Fällen müsste er vollkommen zu Recht die Aussage verweigern, weil er sonst Klienten und deren persönliche Lebensumstände öffentlich machen würde. Das verbietet ihm seine Schweigepflicht.«
Tatsächlich steckte etwas ganz anderes dahinter: Sundern hatte einer bestimmten Partei der Mitte für den Wahlkampf viel Geld gespendet.
Von dieser Tatsache wusste auch die SPD, die im Clan des Sundern ebenfalls eine Gönnerin hatte: Meike Kern. Also konterte die SPD: Wenn Sundern nicht als Zeuge geladen würde, müsse man auch Meike Kern ausschließen. Durch ihre Verquickung mit Sundern könne man auf keinen Fall Erhellendes erwarten, denn schließlich stehe auch sie unter Schweigepflicht, was die Mandanten ihres Exehemannes betreffe.
»Außerdem«, so sagte der SPD-Sprecher in einer Aufwallung moralischer Entrüstung, schmerzlich berührt wie ein Priester, »hat diese junge Frau jahrelang vollkommen freiwillig in dieser gewalttätigen Umgebung gelebt. So scheint es nur als zwangsläufige Folge, dass die Gewalt irgendwann eskalieren musste.
Im Übrigen wissen alle Mitglieder des Ausschusses, dass Meike Kern inzwischen leider mit diesem Journalisten Grau liiert ist, der uns nun nicht gerade ein Garant für Ernsthaftigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Wahrheitsliebe zu sein scheint.«
Richtig, das Auftreten von Jobst Grau vor dem Ausschuss wurde ebenfalls einstimmig abgelehnt. Die Begründung im Fall Grau trug ein Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen vor. Sie lautete kurz und bündig: »Grau ist offensichtlich nach Berlin gegangen, um durch krumme Geschäfte in Verbindung mit Timo Sundern wenigstens einmal im Leben zu etwas mehr Geld zu kommen, als man für einen Malediven-Urlaub braucht. Ein gekaufter Zeuge, nicht glaubwürdig.«
Sie ahnen sicherlich schon, worauf das Ganze hinausläuft. Von denjenigen, die über diesen Krieg in Berlin wirklich etwas hätten sagen können, wurde nicht ein Einziger als Zeuge gehört.
Selbstverständlich werde ich versuchen, Ihnen anhand eines Beispiels die Frage zu beantworten, wer denn nun als Zeuge auftreten durfte.
Nun, der Beamte des Bundesnachrichtendienstes, Robert Thelen, durfte nicht. Er hatte Aussageverbot seiner Behörde mit Rücksicht auf geheim laufende Ermittlungen.
Der Beamte der amerikanischen Drug Enforcement Administration, Al White, durfte ebenfalls nicht aussagen, aber ihn forderte man als Zeugen auch gar nicht erst an, denn nach offiziellen Aussagen seiner Vorgesetzten war er nicht in Europa, geschweige denn in Berlin. Dazu später ein paar Zeilen mehr.
Ein anderer Mann wurde hingegen ausführlich gehört, der Kriminalist Dr. Manfred Schambeck, achtundvierzig Jahre alt. Er gab an, Drogenspezialist zu sein. Seine Anhörung vor dem Ausschuss dauerte sechs Stunden. Auf die Frage, ob er die Menschen um Rechtsanwalt Timo Sundern kenne, antwortete Schambeck: »Selbstverständlich ist mir diese Gruppe seit Jahren gut bekannt. Von Zeit zu Zeit haben wir die einzelnen Mitglieder der Gruppe recherchiert, unter die Lupe genommen, beobachtet. Ich wurde über Neuzugänge immer sofort informiert, war also stets auf dem Laufenden. Infolgedessen fiel mir auch sofort dieser Journalist Jobst Grau auf, der sich der Gruppe hinzugesellt hatte.
Da die Gruppe gegenüber Dritten stets streng abgeschottet wird, konnte es nur einen Grund geben, warum Grau sofort aufgenommen wurde: Er stand in geschäftlichen Beziehungen zu Timo Sundern. Welcher Natur diese waren, konnte ich nicht in Erfahrung bringen, da die mir zur Verfügung stehende Zeit hierfür nicht ausreichte.
Nein, den hier zur Debatte stehenden toten Ulrich Steeben habe ich persönlich nicht mehr kennengelernt, auch dazu war die Zeit zu kurz. Wir hatten vermutet, dass er mit sehr viel Rauschgift und einem ansehnlichen Betrag in bar nach Berlin kommen würde. Das exakte Datum seiner Ankunft war uns jedoch unbekannt. Nach unserer Kenntnis allerdings war Steeben ein absoluter Einzelgänger – niemand wusste von seinem Kommen.
Dass er auf eine so merkwürdige Art plötzlich verstarb, hat uns zwar stark verunsichert, hat jedoch nach unserer Kenntnis mit dem Rauschgift und dem Bargeld mit Sicherheit nichts zu tun. Er wurde wahrscheinlich zufällig das Opfer eines wahllosen Rachefeldzuges.«
Dieser erstaunliche Dr. Manfred Schambeck war der wahrscheinlich brillanteste Lügner vor dem Ausschuss, denn eine Woche nach Graus Eintreffen in Berlin wusste er angeblich noch nichts von der Existenz dieses Rechtsanwalts Sundern.
Auf die Frage nach seinem Verhältnis zu Sundern antwortete er wörtlich: »Ich kenne Herrn Sundern nicht persönlich. Er soll aber eine große Rolle in stadtbekannten Kreisen von Nachtschwärmern spielen.« Diese Aussage stand dann auch am nächsten Tag in einer großen Berliner Tageszeitung.
Von der Existenz des Jobst Grau erfuhr dieser Schambeck erst, als Grau die Stadt wieder verlassen hatte. Seine großartigen Kenntnisse über die Gruppe um den Rechtsanwalt Timo Sundern mussten gleich null gewesen sein, denn eine ›Gruppe um Timo Sundern‹ hat es nach meinen Informationen nie gegeben.
Sie dürfen sich jetzt amüsieren: Dieser Dr. Manfred Schambeck, der mit so großer, selbstverständlicher Geste behauptet hatte, Sundern und die Rauschgiftszene Berlins fest im Griff zu haben, wohnt in einer Wohnung, die einer gewissen ›Immo-Finanz-Gesellschaft‹ gehört. Deren Eigentümer ist der Rechtsanwalt Timo Sundern, die Geschäftsführerin des Unternehmens heißt Meike Kern.
Ich möchte Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, an dieser Stelle eines deutlich vor Augen führen: Wenn ich Graus Geschichte nachzeichne, so nur deshalb, weil sie mit dem, was später vor dem Untersuchungsausschuss aufgerollt wurde, nicht mehr viel zu tun hat – was bei vielen Ausschüssen so ist, die zur Klärung eines Skandals eingesetzt werden.
Es gibt Handlungsstränge im Rahmen dieser Geschichte, die Grau als mein weiß Gott nicht gerade perfekter Held nur am Rande wahrnehmen konnte, deren Feinheiten und Auswirkungen er gar nicht begriff, weil er selbst nicht daran beteiligt war. Er schlug sich gerade in Berlin mit den verschwundenen zehn Millionen Dollar und fünfzig Pfund Kokain herum, während zeitgleich im Regierungsapparat des rheinischen Bonn ein erstklassiger Skandal hochköchelte.
Aber wir wollten doch Leichen zählen …
Hier ist Leiche Nummer vier: Der achtundzwanzigjährige Ulrich Steeben, promoviert, zuletzt Kurier des Auswärtigen Amtes, war von der Bildfläche verschwunden, um dann als wahrhaftig grauenerregender Toter in Berlin wieder aufzutauchen, sein Geschlechtsteil im Mund. Dummerweise war er auch noch unter dem verwirrenden Decknamen Markus Schawer zur Leiche geworden.
Der Skandal begann damit, dass Graus Kollegin Helga Friese in ihrer unnachahmlichen, rotzfrech-naiven Art im Auswärtigen Amt nachfragte, wo denn der Kurier Steeben sei, Vorname Ulrich. Sie war zunächst nicht mit der Pressestelle verbunden worden, sondern mit dem sogenannten Abwiegler, einem äußerst präzise funktionierenden langjährigen Bediensteten des Amtes. Der wusste natürlich von nichts, und ein Mann namens Steeben war ihm gänzlich unbekannt.
Als dann die gut gelaunte Helga wörtlich formulierte: »Ach, das ist aber interessant, ich habe nämlich hier in Berlin seine Leiche gefunden«, wusste der Mann natürlich sofort: Das bedeutet Ärger! Er bat Helga Friese sehr freundlich, in einer Stunde noch einmal anzurufen. Er würde sich in der Zwischenzeit kundig machen.
Das tat er nicht, er marschierte stattdessen energisch zu seinem Referatsleiter und trompetete: »Falls uns ein Steeben abgängig ist, sollten wir überlegen, was wir jetzt sagen. Irgendeine dumme Pressetussi hat nämlich gerade in Berlin seine Leiche gefunden. Er ist durch eine Reihe von Messerstichen getötet worden. Genau siebzehn. Und er hatte sein bestes Stück im Mund.«
Nach dieser Eröffnung ließ sich der Referatsleiter von den zuständigen Abteilungen alles Wissenswerte über diesen Ulrich Steeben zusammentragen. Zunächst einmal kam er zu der unangenehmen Erkenntnis, dass es tatsächlich einen Ulrich Steeben gab. Dann musste er nach Sachlage feststellen, dass dieser Ulrich Steeben entweder im Bereitschaftsraum sein musste oder aber zu Hause. Steeben war jedoch nicht aufzufinden, und zunächst gab es auch niemand, der ihn ernsthaft vermisste.
Dann entdeckte er die Koffer, oder besser gesagt, eine Aktennotiz, die eine höchst bemerkenswerte Geschichte über vier Kurierkoffer erzählte. Demnach hätte Steeben auf dem Rückflug von der üblichen Amerika-Route vier Koffer mit diplomatischer Post mitbringen müssen. Hatte er aber nicht. Nirgendwo fand sich ein Eintrag, dass besagter Steeben mitsamt ebendiesen Koffern eingetroffen war.
Aber: Anruf vom Pförtner, dass bei ihm vier Diplomatenkoffer herumstünden, die jemand aus Berlin geschickt hätte. Wie waren die Koffer nach Berlin gekommen? Was hatte dieser Steeben dort zu suchen gehabt? Der Referatsleiter begann, sich ernsthafte Sorgen zu machen.
Zu diesem Zeitpunkt rief Helga Friese zum zweiten Mal im Auswärtigen Amt an und wurde von der inzwischen präparierten Zentrale in die Presseabteilung durchgestellt. Man verband sie mit einem Mann, der nicht zur Presseabteilung gehörte, aber eine gehörige Portion Erfahrung im Umgang mit heißen Eisen hatte.
Dieser Mann behandelte Helga sehr freundlich und kollegial und versicherte ihr, es gäbe im Auswärtigen Amt keinen Mitarbeiter mit Namen Steeben. Er hielt sich für witzig, als er sagte: »Weder unter uns Pförtnern, Frau Kollegin, noch beim Kantinenpersonal haben wir diesen Namen gefunden. Es muss sich um eine Verwechslung handeln.«
Nun war dem Referatsleiter bekannt, dass Steeben in Bonn in der Beethovenstraße eine Wohnung hatte. Also wurde zunächst ein Hausmeister dorthin geschickt, um das Namensschild von der Klingelanlage zu entfernen. Des Weiteren wurde vorsorglich ein um drei Wochen rückdatiertes Kündigungsschreiben des Ulrich Steeben an die Wohnungsverwaltungsgesellschaft entworfen, ausgedruckt und mit seiner Unterschrift versehen.
Aufgescheucht von der Fernsehsendung in Berlin, deren Autorin Helga Friese war, riefen vier Rundfunkstationen, sechs Tageszeitungen, vier Magazine und drei Fernsehsender im Auswärtigen Amt an. Ihnen allen versicherte man: »Ulrich Steeben? Ist uns unbekannt!«
Auf ihren heftigen Protest, man besitze immerhin Fotos und Porträts der Leiche, antwortete das Auswärtige Amt: »Das mag durchaus sein, aber da wir unter den Betriebsangehörigen keinen Mitarbeiter namens Ulrich Steeben haben, sind Ihre Fotos gegenstandslos.«
Inzwischen hatte ein findiger junger Reporter mithilfe des Bonner Telefonbuchs Steebens Adresse ausfindig gemacht, bei Nachbarn geklingelt und sich nach dem jungen Mann erkundigt.
Die Nachbarn entpuppten sich als freundliche, aufgeschlossene Leute, die sofort bestätigten, Ulrich Steeben sei ein junger, aufstrebender, gut aussehender Diplomat, »so was Nettes von einem jungen Mann. Und sehen Sie mal, hier auf dem Foto hat er meine kleine Tochter auf dem Schoß. Das war auf einer Grillparty bei uns im Garten.«
Ein älteres Redaktionsmitglied eines politischen Magazins entsann sich einer lauen Sommernacht in den Rheinauen vor etwa sechs Jahren. Dort war es gelungen, eine höchst schmutzige Affäre um einen deutschen Botschafter im Nahen Osten aufzudecken. Dabei geholfen hatte eine Sekretärin des Auswärtigen Amtes, die, noch atemlos von der soeben genossenen Liebe, die unglaublichen Machenschaften des Herrn Botschafters zu Protokoll gegeben hatte.
Wie sich herausstellte, war sie auch jetzt wieder durchaus zu einem Treffen bereit und nannte das Ganze ungeniert »einen kleinen hübschen Ausbruch aus meinem Gefängnis«. Sie sagte, einige Referatsleiter liefen mit graugrünem Gesicht über die Gänge, denn der Steeben, natürlich ein Kurier, sei tatsächlich seit einigen Tagen verschwunden. Es sei durchaus möglich, dass er irgendetwas mit schmutzigen Dollars und Kokain am Hut hätte.
Eine junge Reporterin aus Berlin faxte das Foto des toten Steeben nach Rio, mit der Bitte, es der Crew der Maschine vorzulegen, mit der Steeben von Rio nach Amsterdam geflogen war. Zwei Stewardessen und ein Steward waren sofort bereit zu schwören, dass dieser Mensch in der Maschine gesessen hatte.
Die hartnäckige junge Dame konnte also getrost formulieren: »Was wissen wir denn nun? Wir wissen, dass der Kurier des Auswärtigen Amtes in Bonn, Dr. Ulrich Steeben, von der ihm vorgeschriebenen Route abgewichen und von Amsterdam nach Berlin geflogen ist. Wir wissen weiter, dass er ins Hilton einzog und praktisch im gleichen Augenblick verschwunden ist. Wir wissen außerdem, dass er mit insgesamt sechs großen Diplomatenkoffern im Hilton ankam. Vier dieser Koffer enthielten Post aus den deutschen Vertretungen der beiden amerikanischen Kontinente.
Und was war in den anderen beiden Koffern? Steeben kam, das konnten wir nachweisen, aus Rio de Janeiro. Also kann das Gerede, die Koffer hätten Kokain enthalten, durchaus stimmen. Es gibt auch Gerüchte, die besagen, außer dem Kokain hätte der junge Mann, dessen Leiche erst viele Tage später entdeckt wurde, eine unglaubliche Menge an Dollarnoten mitgebracht. Man spricht von zehn Millionen. Da wird man wohl fragen dürfen, was für merkwürdige Leute das Auswärtige Amt eigentlich beschäftigt …«
Nach den ersten zwanzig Anfragen in Sachen Ulrich Steeben hätte man sich durchaus auf eine annehmbare Lesart festlegen können. Das aber geschah gerade nicht, weil zwei Referatsleiter, die sich ohnehin nicht leiden konnten, der Auffassung waren, der Fall Ulrich Steeben gehöre in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich.
Der eine gab die Anweisung, die Person Steeben schlichtweg bis zum bitteren Ende zu leugnen. Der zweite hatte die Idee, Steeben kurzfristig wieder aufleben zu lassen, um ihn dann zur Leiche mit allen bürgerlichen Ehrenrechten zu erklären.
Immer mehr Journalisten fanden unwiderlegbare Beweise dafür, dass es tatsächlich einen jungen Diplomaten namens Ulrich Steeben in Diensten des Auswärtigen Amtes gegeben hatte. Sie fragten denn auch nicht mehr, ob es Steeben wirklich gab, sondern wie das Auswärtige Amt es zu erklären gedenke, dass augenscheinlich ein junger Diplomat mit einer geradezu wahnwitzig anmutenden Menge an Geld und Drogen in Berlin angekommen war.
Mittlerweile kursierten private Fotos von Steeben. Die meisten stammten von jungen Kollegen des Verblichenen, die, verlegen zwar, aber ohne großen Verhandlungsspielraum bestimmte Preise festgesetzt hatten, um durch ihre karge Lehrlingszeit zu kommen: drei bis fünfhundert Mark pro Abzug.
Der Referatsleiter des Auswärtigen Amtes, der beschlossen hatte, Steeben schlichtweg für nicht existent zu erklären, geriet ins Hintertreffen, als sein Kontrahent auf einer eigens einberufenen intimen kleinen Pressekonferenz vor befreundeten Journalisten erklärte, man habe Steeben aus gutem Grund geleugnet, denn er sei nicht nur ein Kurier, sondern sogar Geheimkurier in hochbrisanter Mission gewesen.
Bereits seit Tagen stehe er auf der Verlustliste, nun aber sei man endlich in der Lage, auch definitiv zu erklären, dass Steeben bei einer Mission in Rio de Janeiro entweder tödlich verunglückt oder aber irgendwie um die Ecke gebracht worden sei. Völlig aufgeklärt sei das alles jedoch noch nicht.
Auf keinen Fall, so der siegreiche Referatsleiter, sei Steeben identisch mit dem Toten, den man in Berlin gefunden habe. Steeben habe nach sehr soliden, umfassenden Kenntnissen des Auswärtigen Amtes niemals mit irgendwelchen Leuten aus der internationalen Drogenszene Verbindung gehabt.
Sehr geschickt berief der Referatsleiter vierundzwanzig Stunden nach diesem ersten Statement die gleiche Runde erneut ein. Diesmal sagte er traurig triumphierend: »Wir haben ihn gefunden!« Offensichtlich sei der Gesuchte in Rio einem heimtückischen Verbrechen zum Opfer gefallen – im Dienst für Deutschland. Man werde die Leiche überführen, der Vater sei bereits benachrichtigt.
In der Zwischenzeit wurde in Berlin im Eilverfahren die Leiche des Ulrich Steeben allen erreichbaren Ressortleitern der Kripo vorgeführt. Wer der Meinung war, dieser ominöse Tote gehe ihn nicht mittelbar an, hatte zu unterschreiben. Sie unterschrieben alle. Selbstverständlich gab es sowohl protestierende Staatsanwälte als auch Kriminalbeamte der Mordkommission, aber sie wurden mit der Versicherung fortgeschickt, es gehe um höchste Staatsbelange.
Wer eigentlich den Befehl gegeben hatte, die Leiche des Ulrich Steeben alias Markus Schawer blitzschnell im Krematorium zu verbrennen, war anschließend nur noch sehr mühevoll zu rekonstruieren. Tatsache ist: Seine sterblichen Überreste wurden zusammen mit den Leichen von zwei Pennern verbrannt, die drei Tage zuvor an Leberinsuffizienz gestorben waren. Ein irgendwie zu verifizierendes Gefäß mit der Asche des Ulrich Steeben konnte ich anschließend nirgends entdecken.
Da auch deutsche Krematorien ein Hort der Ordnung und Refugien von in Jahrzehnten gewachsenen Hierarchien sind, muss ich Ihnen wohl erklären, wieso Steebens Leiche so blitzschnell verbrannt werden konnte. Ich brauchte lange, um herauszufinden, wie das gedreht worden ist – ein schrecklicher pietätloser Ausdruck angesichts eines Verblichenen.
Der Tote lag noch in einem Kellerraum des Krematoriums, als plötzlich ein junger Mann auftauchte und ihn nachdenklich betrachtete. Außer ebendiesem jungen Mann hatte niemand mehr Interesse an besagtem Leichnam, denn unentwegt klingelten Telefone, und allen irgendwie Beteiligten wurde zugeflüstert, es handele sich dabei um ein absolutes top-secret, das Geheimnis des Jahres gewissermaßen. Das führte dazu, dass jedermann sich für nicht zuständig erklärte.
Der junge Mann wies sich freundlich, per flüchtig vorgehaltenem Pass, als Mitglied des Bundesnachrichtendienstes aus. Er war von seinen Chefs dazu ausersehen worden, eine Spezialschulung bei der CIA zu absolvieren, und man hatte blitzschnell begriffen, dass dieser Umstand jetzt ein Geschenk des Himmels war.
Man jagte ihn nach Berlin.
Er hatte im Vorübergehen ein Pappschild ergriffen und es ausgefüllt. Der Vermerk lautete k. v. w., was so viel hieß wie ›kann verbrannt werden‹. Er rollte den toten Steeben auf der Bahre in einen anderen Raum. Dort lag er nun zwischen den beiden Pennern, und der Unbekannte betrachtete ihn noch einmal sehr eingehend, bevor er das Pappschild an Steebens rechtem großem Zeh austauschte. Er sah zu, wie Steebens letzte Reise begann, während er freundlich mit dem Aufseher plauderte. Eine Stunde später war er wieder in der Luft, auf dem Weg nach Washington.
Der Aufseher im Krematorium sagte im Brustton der Überzeugung: »Das war wirklich ein feiner Kerl mit Sinn für unsere Arbeit.«
Um das Maß der Dummheit vollzumachen, benachrichtigte der siegreiche Referatsleiter des Auswärtigen Amtes eine bekannte Boulevardzeitung. Deren Reporter durften Zeugen sein, wie die Leiche des Diplomaten Dr. Ulrich Steeben, aus Rio kommend, in Frankfurt eintraf. Es handelte sich um einen Zinksarg, der verplombt in einem kostbaren Eichensarg steckte. Es lag eine amtliche Bescheinigung der Botschaft in Rio de Janeiro bei, dass es sich hier um die Leiche des Dr. Ulrich Steeben handelte.
Der Vater von Steeben nahm die Fracht in Empfang und trug ein düsteres Gesicht zur Schau, was in der Bildunterschrift folgendermaßen kommentiert wurde: Das Leid des Vaters wird nur wenig gemildert durch die Tatsache, dass sein Sohn Ulrich ein Mann war, der in aufopferndem und stillem Dienst für sein Vaterland gestorben ist.
Tatsächlich äußerte der Vater während der blitzschnell angesetzten Beerdigung in Tübingen in kleiner Runde, er habe nie daran gezweifelt, dass es bei diesem Sprössling zu einem Ende mit Schrecken kommen werde. Er war ganz zufrieden damit, den Sarg nicht mehr öffnen zu können und folglich den Sohn auch nicht mehr sehen zu müssen. Ein ihm ausgehändigtes Schreiben der Botschaft in Südamerika bat dezent, auf eine ›Besichtigung‹ zu verzichten.
Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden mich nun fragen, was denn in diesem Sarg tatsächlich gewesen ist – die Leiche des Sohnes kann es ja bekanntlich nicht gewesen sein. Nun, ich weiß es nicht, ich vermute aber, dass man etwas hineingelegt hat, was ungefähr dem Gewicht eines ausgewachsenen Mannes von Steebens Größe entsprach. Selbstverständlich hatte sich das Auswärtige Amt des Problems mit all diesen Manövern noch nicht entledigt. Im Gegenteil: Jetzt ging es erst richtig los.
Es ist verbürgt, dass der siegreiche Referatsleiter im Auswärtigen Amt ganz beleidigt war, als eine misstrauische Journalistin ihn anrief und fragte, wie er nun eigentlich die Sache mit den fünfzig Pfund Kokain und zehn Millionen Dollar in bar erklären wolle, die Steeben angeblich nach Berlin gebracht hätte. Er entgegnete wütend: »Steeben war nie in Berlin. Bei dem Toten in Berlin handelt es sich um einen gewissen Markus Schawer oder so ähnlich.« Sehr ärgerlich erklärte daraufhin die Journalistin: »Erzählen Sie das doch Ihrer Großmutter!«, und legte auf. Der Referatsleiter verbuchte den Vorgang seufzend unter ›nicht gewürdigte Aufopferung für dieses Staatswesen‹.
Zur Kenntnis des interessierten Lesers: Beide Referatsleiter sind nicht mehr im Amt. Der erfolgreiche dient bei gleichem Gehalt im Archiv des deutschen Gesandten in Washington. Der unterlegene wurde entlassen mit der Begründung, er habe sich gegen seinen Widersacher nicht richtig durchgesetzt. Er ist heute in einer liberalen Parteistiftung tätig.
Ein Berliner Stadtmagazin veröffentlichte ein Interview mit einem Punk aus dem besetzten Haus in der Ostender Straße. Der Junge behauptete, das ganze Haus wäre von vier Indianern aus Peru systematisch unter Kokain gesetzt worden. Es wäre dann zu einer wilden Schießerei zwischen den Indianern und Berliner Gangstern gekommen.
Die Berliner Polizei belächelte diese Darstellung und attackierte vorlaute Journalisten mit der Gegenfrage: »Wo sind denn diese Peruaner jetzt? Haben die sich etwa in Luft aufgelöst?« Als Stunden später eine Berliner Tageszeitung einen recht intelligenten Schluss zog und die Frage stellte: Wollten die Peruaner das Gift und das Geld des toten Diplomaten?, schüttelten sich Vertreter der Polizei schier aus vor Lachen und lehnten jede Stellungnahme ab.
Meine Kolleginnen und Kollegen im Bundestagsausschuss haben die Chance gehabt, die Affäre klar und kühl auszuleuchten und damit zu beenden. Sie haben sie nicht wahrgenommen, sie haben im Gegenteil Graus Namen in den Schmutz getreten, wenngleich dieser Mann, um eine so abgedroschene Redewendung zu gebrauchen, sich um dieses Land verdient gemacht hat. Grau hat diesen Einsatz mit Blessuren an Körper und Seele bezahlt.
White habe ich nicht befragen können, denn offiziell war er nie mit diesem Fall befasst. Offiziell hat er die Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt nicht betreten, seine Behörde hat energisch dementiert, dass ein deutscher Journalist namens Jobst Grau in irgendeiner, wie auch immer gearteten Beziehung zu diesem Geheimdienst stand.
Woher kann ich also so genau wissen, was Grau und White miteinander gesprochen haben, wenn ich doch White gar nicht fragen konnte?
White musste, wie jeder Agent übrigens, über jedes Treffen genaue Aufzeichnungen liefern. Er machte Notizen über Uhrzeit, Ort und Personen, er erwähnte ausdrücklich, dass er auch Grau bezahlt hat. Diese Notizen heftete er in einem kleinen blauen Ordner ab, der ihn während der ganzen Operation begleitete.
Kennen Sie Silberhaar-Dickson? Dumme Frage, Sie können ihn gar nicht kennen! Silberhaar ist einer jener sagenhaften Verwaltungsfüchse in der amerikanischen Botschaft in Bad Godesberg, ohne die buchstäblich nichts läuft, nicht einmal ein Strauß frischer Blumen auf den Schreibtisch des Gesandten kommt. Silberhaar ist ein Unikum, ein witziger, feiner alter Herr, der niemals zugeben würde, dass er so etwas Unappetitliches wie Macht besitzt. Beispielsweise verlässt kein Hundertdollarschein die Botschaft, ohne von ihm abgesegnet zu sein.
Ich kenne Silberhaar seit etwa zwanzig Jahren. Als ich sein Büro mit zwei Flaschen köstlichen Eisweins von der Ahr betrat, strahlte er und stellte fest: »Da die Bestechungssumme hoch ist, kann ich wohl erwarten, als Landesverräter in die Annalen einzugehen, wenn Sie hier wieder rausmarschieren.«
»Eigentlich nicht«, erwiderte ich. »Ich will nur wissen, ob zwei ganz bestimmte Leute sich an einem ganz bestimmten Tag getroffen haben. Hier in Bonn.« Ich gab ihm die Namen, das Datum, den Wein und verschwand wieder.
Als ich ihn nach einigen Tagen erneut besuchte, ließ er mich mit dem kleinen blauen Ordner allein, den White so eifrig gefüllt hatte. Ich las in aller Ruhe, was ich wissen wollte, klappte den Ordner wieder zu und ließ ihn liegen.
Ich will auch gern zugeben, dass ich Silberhaar in dieser Zeit häufig besuchte und dass dieser kleine blaue Ordner wie zufällig immer auf seinem Tisch lag.
Bis auf eine Schlussbemerkung muss ich Sie nun nicht länger von Ihren Geschäften abhalten. Gehen wir also in den Endspurt, nähern wir uns dem nächsten Toten. Leider bleibt uns dieser nicht erspart.